In der Kapelle

Pepito saß in der ersten Bankreihe der Kapelle und starrte ins Comicheft. Darin wurden die wichtigsten Stationen im Leben Jesu beschrieben. Eigentlich hatte Pepito sich damit nur die Zeit vertreiben wollen, bis es wieder ruhig geworden war und er abhauen konnte. Aber dann war sein Blick auf dieses spezielle Bild gefallen. Heiß und kalt durchlief es ihn dabei. 

Plötzlich tauchte eine Gestalt neben ihm auf. Erschrocken sah Pepito auf. Es war Father Alan. Der Priester setzte sich neben ihn. Beide schwiegen. Schließlich begann Pepito zu sprechen. „Ich wollte weg. Zum alten Unterschlupf, mein Messer holen. Aber dann hörte ich Stimmen im Korridor. Da bin ich hier drin gelandet.“

Father Alan deutete auf die Drahtschere, die auf der Bank neben dem vollgepackten Rucksack lag. „Das war für die Fußfessel gedacht?“ 

Pepito nickte. „Ich hätt’s geschafft zu verschwinden, bevor die Cops aufgekreuzt wären.“ Es klang wie nebenbei, als wäre das inzwischen bedeutungslos geworden. Er hielt kurz inne, dann deutete er auf eins der Bilder im Heft. „Er wurde auch verraten. Stimmt’s?“

„Von einem seiner besten Freunde.“

„Was sagt er da?“ Diesmal deutete Pepito auf eine Sprechblase in einem anderen Bild. 

Father Alan las vor: „‚Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!‘“

Pepito hob den Blick und schaute auf das große Kruzifix, das vorne an der Wand hing, auf die Gestalt des gekreuzigten Jesus, dann wieder hinunter auf das Bild.

„Vergeben? Warum? Ich will mich rächen!“, stieß er hervor.

„Ich weiß“, nickte Father Alan.

Pepito drehte sich zu ihm hin. „Los, sprechen Sie’s schon aus! Ich soll auch vergeben, oder? An meinem ersten Tag hier hat Alex irgendeinen Schwachsinn von Versöhnung gefaselt. Das ist nicht drin. Nie und nimmer!“

Father Alan sah ihn nachdenklich an. „Es ist seit Stunden ruhig im Haus. Du hättest längst weglaufen können. Warum bist du noch hier?“

Der Bursche stutzte. „Stunden?“, wiederholte er. Er warf einen Blick auf seine Uhr und war dann offensichtlich noch bestürzter. „Ich hab die Zeit übersehen! Da war das Bild … und das Kreuz … es hat mich nicht losgelassen …“

Da musste Father Alan plötzlich lächeln. „Ich würde eher sagen: Er, Jesus, hat dich nicht losgelassen.“ Pepito fuhr ungeduldig hoch, und Father Alan hob beschwichtigend die Hand. „Schon gut. Du bist noch nicht soweit zu vergeben …“

„Ich werde mich rächen!“, unterbrach ihn Pepito hitzig.

„Mag sein“, erwiderte Father Alan mit unerschütterlicher Ruhe. „Momentan machst du das am besten, indem du am Leben bleibst. Draußen kommst du nicht weit. Luis Ortiz hat Befehl gegeben, dich umzulegen, sobald du dich zeigst. Die Gelegenheit solltest du ihm nicht geben.“

Pepito starrte den Priester hilflos an. Auf einmal fühlte er sich todmüde. Ob Rodrigo dem Tötungsbefehl nachkommen würde? Daran wollte er nicht denken. Und dann fiel ihm plötzlich der zweite Grund ein, warum er in seinen alten Unterschlupf wollte. Unwillkürlich rief er aus: „Mist! Ich brauch doch meine Zahnseide. Die hab ich vergessen einzupacken!“

Father Alan starrte den Burschen sprachlos an. „Zahnseide?“, wiederholte er schließlich mit schwacher Stimme. „Dafür wolltest du dein Leben riskieren?“ Der Priester hatte schon viel gehört und gesehen. Aber das war neu. Nur mit größter Mühe gelang es ihm, ernst zu bleiben.

„Ach, verdammt“, knirschte Pepito hervor. Es wurde ihm ganz heiß vor Verlegenheit. „Es ist wegen meiner Alten … sie ist auf Crystal Meth … Sie verstehen das nicht … ich will nie so aussehen wie sie …“

Das Bedürfnis zu lachen verging Father Alan abrupt. Was diese spezielle Droge mit Menschen anrichtete, wusste er genau. „Doch, das verstehe ich sehr gut“, sagte er sanft. Und dann musste er trotzdem grinsen. „Pepito, ich mag dich, aber du bist ein Idiot. Hab ich dir nicht versprochen, dass ich dich nicht hängenlasse? Zahnseide für dich zu beschaffen, ist da inbegriffen.“

Das entlockte auch Pepito ein betretenes Lächeln.

Father Alan betrachtete ihn abwägend. „Warst du eigentlich schon jemals aus der Stadt draußen?“

Der Bursche schüttelte den Kopf. 

Father Alan erklärte: „Bald fangen die Sommerferien an. Da verbringen wir jedes Jahr einige Wochen auf einer Ranch. Kein Bootcamp“, fügte er hinzu, als er Pepitos skeptischen Blick sah. „Ein Ferienlager. Es wird dir helfen, Abstand zu gewinnen.“ Er klopfte dem Burschen auf die Schulter. „Kopf hoch. Du wirst dich durchkämpfen. Und jetzt“, sagte er entschieden, „gehst du am besten schlafen.“

Schließlich stand Pepito wieder im Vorraum seiner Wohneinheit. Die Tür zum Zimmer von Alex stand offen, die Nachttischlampe war an. Zögernd näherte sich Pepito der Türöffnung und sah, dass Alex hellwach im Bett lag. Der Blick seines Buddys wirkte kühl und reserviert. 

„Wenn du mir so etwas noch einmal antust, leg ich dich um. Und versöhne mich nachher mit dir. Klar?“, sagte Alex.

„Glasklar. Die Art von Versöhnung versteh ich.“ Sie starrten einander feindselig an, doch dann mussten beide plötzlich widerwillig grinsen. „Ich wollte dir keinen Ärger machen“, fügte Pepito hinzu. 

„Schon gut. Und jetzt lass mich in Ruhe. Morgen fangen wir neu an.“

 Wenig später lag Pepito im Bett und fiel in einen tiefen und traumlosen Schlaf

Veronika Grohsebner ist Schriftstellerin aus Wien und Autorin der erfolgreichen Benjamin Coleman Buchserie.

Der YOU!Magazin Fortsetzungsroman ist ein Spin-Off der Alan Jason Trilogie.