Wir kennen sie alle – die Sehnsucht. In Worte fassen lässt sich das Gefühl aber dennoch nur schwer. Unzählige Songs besingen eine Sehnsucht nach einer bestimmten Person, einer bestimmten Sache oder eben einfach nach „mehr“. Aber woher kommt sie? Und wie gehen wir damit um? Manchmal würden wir sie ja gern loswerden. Sie kann nerven und sogar wehtun. Aber ist sie wirklich nur schlimm? Oder kann sie vielleicht sogar eine gute Freundin und Wegbegleiterin sein?

Text René Podesser

Grundbedürfnisse

Man muss kein Superbrain sein, um zu wissen, dass es Grundbedürfnisse des Menschen gibt. Dass wir es nötig haben zu essen, zu trinken und zu atmen, ist kein Geheimnis und ich persönlich würde es lieber nicht versuchen, das Gegenteil zu beweisen. Während essen und trinken zu den Grundbedürfnissen für unser körperliches Überleben zählen, gibt es auch seelische Bedürfnisse, ohne die wir einfach nicht funktionieren.

Wir haben ganz einfache Bedürfnisse, wie die Selbstbestimmung unseres Alltags und Entscheidungsfreiheit über unsere Zukunft oder Dinge zu tun, die uns Spaß machen, und Dinge zu vermeiden, die uns das Leben schwer machen. Aber es gibt auch tiefe Sehnsüchte in jedem von uns, wie das Bedürfnis nach Beziehung, Bindung, sozialen Kontakten und Bestätigung und Annahme von anderen.

„Be-Longing“ – Wo gehören wir hin?

Dass Menschen ohne soziale Kontakte, ohne Zuneigung von anderen nicht überlebensfähig sind, wissen wir spätestens seit dem Versuch Friedrichs des Zweiten im 13. Jahrhundert, der, um herauszufinden, welche Sprache Babys von Natur aus sprechen würden, ohne dass zuvor jemand mit ihnen spricht, den Versuch startete, einige Neugeborene lediglich zu füttern und zu reinigen ohne jeglichen weiteren Kontakt oder Zärtlichkeit. Das verheerende Resultat: Alle Kinder starben nach kurzer Zeit.

Wir haben ein Bedürfnis nach Bindung, wir brauchen einander, wir brauchen ein Gegenüber, nicht nur im Säuglingsalter. Selbst wenn wir eher introvertiert gestrickt sind, ist es für uns also unabdingbar, in gute Beziehungen, Freundschaften und Familie zu investieren. Das englische Wort für Sehnsucht ist „longing“, was wiederum auch im Wort „belonging“ (dazugehören) steckt. Zufall? Vielleicht.

Sehnsucht als Kompassnadel

Immer nach Norden. Immer hinauf. Die Sehnsucht ist unsere Kompassnadel, die uns den Weg in die richtige Richtung zeigen kann, bzw. sollte sie das. Dazu müssten wir aber vielleicht andere Magnete, die uns so sehr anziehen, hin und wieder etwas entfernen. Oft wissen wir nämlich gar nicht, was eigentlich unsere wahre Sehnsucht ist. In unserem Fast-Food, 5G, Highspeed Zeitalter, fällt es uns oft schwer uns darauf zu besinnen, was wirklich unser tiefes Verlangen ist und wo wir vielleicht an unserem eigentlichen, tieferliegenden Bedürfnis vorbeileben.

Falsche Magnete

Wir versuchen durch Dinge wie Sexualität, Beziehungen, Partys, Alkohol, Shopping, Gaming, Social Media (… fill in the gap) das Loch in unserem Herzen quasi auf Knopfdruck zu stillen. „I want it all and I want it now!“, trällerte schon Freddie Mercury. Versteh mich nicht falsch, diese Dinge sind nicht schlecht und, im richtigen Rahmen, auch gut und wichtig. Aber orientieren wir die Kompassnadel nicht am eigentlichen Norden, ist die Folge, dass wir letztlich im Kreis gehen und niemals zur echten Oase kommen. Ist die schnelle Anziehung wieder weg, bleiben wir unerfüllt zurück.

Sehnsucht als Ewigkeitsindiz

Was ist also dieser Norden? Was ist es, wonach wir uns sehnen? Es ist doch spannend, dass scheinbar jeder und jede von uns, egal ob religiös oder nicht, egal welcher Nationalität wir angehören oder welches Geschlecht wir haben, diese Sehnsucht nach „mehr“ in uns tragen. Ein kleines Loch in unserem Herzen, das immer wieder darum bittet, gefüllt zu werden, und doch von den Dingen dieser Welt niemals ganz voll wird.

Der Prediger im Alten Testament schrieb schon vor tausenden von Jahren:

„In das Herz des Menschen hat er den Wunsch gelegt, nach dem zu fragen, was ewig ist. Aber der Mensch kann Gottes Werke nie voll und ganz begreifen.“ Kohelet 3,11b HFA

Vielleicht ist diese Sehnsucht ja wirklich ein Indiz dafür, dass es mehr gibt als diese sichtbare Welt. Dass wir von einem Schöpfer als ewige Wesen geschaffen wurden. Kann es sein, dass unsere Sehnsucht nach „mehr“ ein Zeichen dafür ist, dass es da auch wirklich „mehr“ gibt, als wir hier und heute sehen? Was ist ewig? Was füllt uns wirklich?

Belonging to God

Wir alle haben die Geschichte von Adam und Eva schon einmal auf irgendeine Art und Weise gehört (nachzulesen im Buch Genesis, ganz am Anfang des Alten Testaments.) Dort wird davon berichtet, dass Gott den Menschen als Mann und Frau schuf und es war SEHR GUT. Der Mensch war in einem wunderbaren, perfekten Garten und konnte Gott nicht nur erahnen, erbeten und erspüren. Nein, er konnte ihn ansehen, ihn berühren, mit ihm sprechen und sogar mit ihm spazieren gehen.

Verlorene Orientierung

Doch lange hielt dieses Glück nicht an. Anstatt Gott zu vertrauen, der alle Sehnsucht stillt und sie „in seinem Bild“ geschaffen hat, wollten Adam und Eva lieber die Fast-Food Variante und aßen eine saftige, gutaussehende Frucht, um sofort „wie Gott“ sein zu können. „I want it all, I want it now“. Kommt mir irgendwie bekannt vor…

Die Unruhe bleibt

Das Resultat: Der Kompass ist abgelenkt. Der Mensch entfernt sich von Gott und verliert mehr und mehr seine Bestimmung und sein Zuhause bei Gott. Aber die Sehnsucht bleibt. „Unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir“, so hat es Augustinus schon vor 1600 Jahren ausgedrückt. Und das ist bis heute geblieben.

„Die Liebe hört niemals auf.“ 1. Korinther 13,8

Was ist dieses Ewige, nach dem unser Herz fragt? Gott ist ewig. Und die Liebe ist es auch. Weil ER selbst die Liebe ist. Wenn wir es also wirklich wagen, nach der Ewigkeit zu fragen und wir dieses Loch füllen wollen, kommen wir an der einen Liebe nicht vorbei, die Gott zu uns hat.

„Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm.“ 1. Johannes 4,16

Gott lieben. Das ist einfach sich lieben lassen. Nicht zuerst etwas, was wir leisten müssten. Denn weißt du, was? Noch bevor wir Gott lieben können, hat er uns geliebt. „Darin besteht die Liebe: Nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt und seinen Sohn als Sühne für unsere Sünden gesandt hat“ so sagt es der Evangelist Johannes. Noch bevor wir Sehnsucht nach Gott haben, hatte er Sehnsucht nach uns, nach dir, nach mir. Nicht weil ihm etwas fehlen würde, sondern weil er möchte, dass wir unser Glück finden.

Wir sind Gottes Sehnsucht

„Der Mensch ist die Sehnsucht Gottes.“ Wieder ein Zitat des hl. Augustinus. Jemand hat echte Sehnsucht nach uns. Und das ist nicht irgendjemand, sondern derjenige, der uns „nach seinem Bild“ geschaffen hat. Vielleicht ist genau das der Weg, unsere Sehnsucht, die oft so schmerzhaft sein kann, auszuhalten. Dieser Gedanke, dass unsere Sehnsucht Sehnsucht nach uns hat.

Sich von SEINER Sehnsucht finden lassen

Vielleicht brauchen wir gar nicht alles Mögliche versuchen, um unsere Sehnsüchte loszuwerden. Es liegt an uns, ob uns unsere Wünsche und Sehnsüchte überfordern oder ob sie uns ein Türöffner sein können auf unserem Glaubensweg. Ein Gott, der sich nach uns sehnt, wird plötzlich nahbar und angreifbar, statt furchteinflößend und weit weg. Lassen wir uns von SEINER Sehnsucht finden. Gerade inmitten unserer unstillbaren, unendlichen Sehnsucht ist uns Gott besonders nah und vielleicht nur ein Gebet weit entfernt. Einen Versuch ist es wert.

Im Gespräch mit einer Expertin: Was ist Sehnsucht?

Nicht nur aus praktischen Gründen – sie ist meine Frau – hatte ich die großartige Möglichkeit, Sabrina Podesser zum Thema Sehnsucht zu interviewen. Sabrina arbeitet als Coach, Künstlerin, Poetin, Sängerin und Songwriterin, hat einen Master in Erziehungswissenschaften und war eine Zeit lang in der sozialwissenschaftlichen Forschung an der Universität Salzburg tätig, wo sie sich lange mit dem Thema Sehnsucht auseinandergesetzt hat.

Wenn du Sehnsucht in drei Worten beschreiben müsstest, welche wären das?

Sabrina: (denkt eindringlich nach) „Noch nicht ganz“. Ich denke, Sehnsucht ist dieses Verlangen, bzw. dieser Schmerz, in uns, der uns bezeugt und uns daran erinnert, dass das, wo wir sind und wer wir sind, noch nicht ganz vollkommen, nicht ganz perfekt ist. Und das ist durchaus eine schmerzhafte Erfahrung.

Ist es daher etwas, was man loswerden sollte? Ist Sehnsucht schlecht bzw. ist Sehnsucht immer schmerzhaft?

Sabrina: Ich würde sagen eher „bittersweet“. Ich glaube durchaus, dass wir Menschen danach streben, diese Diskrepanz aufzulösen. Wir sehnen uns in gewisser Weise nach einer Art Vollkommenheit und versuchen daher, diese Spannung des „Es ist noch nicht perfekt“ durch verschiedene Coping-Mechanismen irgendwie aufzulösen. Aber zu sagen, dass die Sehnsucht an sich schlecht ist, wäre aus meiner Sicht nicht alles andere als richtig.

Woher, denkst du, kommt es, dass wir immer wieder Sehnsucht verspüren?

Sabrina: Da ich an diesem konkreten Thema noch nicht wissenschaftlich geforscht habe, kann ich dazu keine wirklich fundierte Antwort geben. Allerdings denke ich, dass die Theologie viele Antworten bereithält. Die Bibel spricht auf der einen Seite von einer Vollkommenheit, die in uns hineingelegt ist, und auf der anderen aber auch von einer gewissen Vergänglichkeit und davon, dass wir diesen „sehr guten“ Zustand aus Genesis 1 in gewisser Weise verloren haben. Das allein stellt eine immense Diskrepanz dar.

Gibt es so etwas wie ein Mittel dagegen?

Sabrina: Ich denke nicht, dass es die Lösung ist, die Sehnsucht loszuwerden oder uns zu betäuben, damit wir sie nicht mehr spüren. Viele Versuche, die Sehnsucht in unserem Herzen zu stillen, sind oft billige Ersatzmittel, die vielleicht kurz Abhilfe schaffen. Die Sehnsucht beinhaltet eine innere Unruhe, fast schon einen inneren Lärm, in unserer Seele. Für mich persönlich kann diese Unruhe nur in der Gegenwart Gottes, durch Kontemplation, Gebet und Gottes Wort gestillt werden.

Worin liegt deiner Meinung nach der Unterschied zwischen Sehnsucht und Unzufriedenheit?

Sabrina: Sehnsucht ist viel abstrakter. Unzufriedenheit ist klar formulierbar und meist sehr konkret. Sehnsucht wird zwar auch oft materialisiert und formuliert als „Ich sehne mich nach Urlaub, etc.“, allerdings denke ich nicht, dass uns zum Beispiel ein Urlaub wirklich von unserer Sehnsucht befreien kann. Wenn man jedoch unzufrieden mit seiner Arbeitsstelle ist, ist das Problem mit einem Jobwechsel oder einer Umstellung innerhalb des Betriebs doch klar und unmittelbar lösbar.

Was ist deiner Meinung nach die größte Sehnsucht des Menschen?

Sabrina: Sinn. Sinnvoll zu sein. Etwas Sinnvolles zu machen und zu hinterlassen. Wissen, dass man nicht „umsonst“ auf dieser Erde ist. Und ich bin fest davon überzeugt, dass unsere tiefste Sehnsucht, unser eigentliches Verlangen am Ende ein Sehnen nach wahrer Liebe ist. Die Sehnsucht kann eine gewisse Krise in uns hervorrufen und Krisen sind immer eine Chance, durch die Oberfläche an das eigentliche Problem zu kommen. Das ist eine große Chance, unsere wahre Bestimmung und unser Potenzial zu erforschen.

Was können wir von der Sehnsucht mitnehmen?

Sabrina: Wir alle haben einen tiefen Sinn in uns dafür, dass diese Welt nicht alles ist, dass wir unser volles Potenzial hier nie ganz ausschöpfen werden können. Allerdings können wir dieses Unsichtbare, Ewige doch erspüren. Wenn wir zum Beispiel Schönheit betrachten oder hören, durch Kunst, Musik oder die Natur, dann resoniert etwas in uns, das wir oft gar nicht in Worte fassen können. Das kann in gewisser Weise unsere tiefe Sehnsucht stillen und uns bezeugen: „Da ist mehr.“