Text Stephanie Stampfer

Scheinbar alle Welt rät dazu, jeder empfängt sie gerne, aber keiner weiß so richtig, wie’s geht: Vergebung. Wir sind für euch auf die Suche gegangen, um zu verstehen, warum Vergebung nicht nur von allen Religionen gutgeheißen, sondern heute auch von der psychologischen Forschung empfohlen wird.  Außerdem wollten wir wissen, wie Vergebung praktisch und konkret gelingen kann.

Wer kennt’s: diesen schweren Klumpen im Herzen oder Hals, und die Endlosschleife von Gedanken, die wie von selbst startet, nachdem uns jemand so richtig verletzt hat? „Was fällt ihr eigentlich ein? Wer glaubt er, dass er ist? Wie die mich angeschaut haben. Die brauch ich eh nicht…“ Bevor wir uns innerlich lossagen und unser letztes Urteil fällen, kommt vielleicht noch der ein oder andere Gedanke, ob der Kommentar nicht doch anders gemeint war oder die Einladung zur Party vielleicht doch wirklich nur vergessen wurde. Am Ende treibt uns unsere Verletzung dann meistens aber dazu, uns zu distanzieren und die vielen Vorwürfe mit verschränkten Armen innerlich zu wiederholen.

Eines ist klar: Vergebung ist nicht einfach und sicherlich keine Zauberformel und trotzdem würden die meisten Menschen sagen, dass es besser ist zu vergeben, als wütend zu bleiben. Obwohl es uns vielleicht leicht fällt zu sagen, dass Vergebung grundsätzlich eine gute Sache ist, wird es dann doch schnell schwieriger, wenn es uns konkret betrifft. Wenn dein Crush auf einmal von dir nichts mehr wissen will und dann auch noch vor dir mit wem anderen flirtet, tut das ziemlich weh. Da bleibt erst mal jeder heldenreiche Gedanke, zu vergeben, ganz weit weg. Viel näher ist da der Wunsch, dass aus der neuen Beziehung nichts wird, dass es bald wieder aus ist und dass dein Crush dann voller Einsicht mit einer langen Liebeserklärung zu dir zurückkommt, bevor du dann stolz und unberührt die kalte Schulter zeigst.

Das vergebe ich dir nie…!

Vergebung ist meistens nicht unser erster Impuls. Wir brechen Freundschaften ab, reden mit der und dem nicht mehr, beantworten die Nachrichten nicht oder freuen uns insgeheim, wenn den Menschen, die uns verletzt haben, etwas Ähnliches passiert. „Geschieht ihr Recht!“, sagen wir manchmal laut und manchmal still und heimlich. Oft merken wir gar nicht, dass sich da eine Bitterkeit in unser Herz eingenistet hat.

Wenn das einmal passiert, stört es uns noch nicht so sehr, dass da ein kleiner Groll in uns wohnt und beleidigt vor sich her brummt. Aber wenn aus dem einen Groll dann viele „Grolls“ werden, die sich lauthals in uns über andere aufregen, merken wir vielleicht doch mit der Zeit, dass sich Wut und Unversöhnlichkeit nicht ganz so prickelnd anfühlen.

“Oft merken wir gar nicht, dass sich da eine Bitterkeit in unser Herz eingenistet hat.”

Dass Leute uns verletzen, können wir nicht umgehen, das gehört irgendwie zum Leben dazu. Oft genug haben wir ja selber als Freunde nicht gerade geglänzt. Wir reden hier nicht von Mord und Totschlag. Wir reden von dem Streit, in dem wir selbst auch nicht ganz schuldlos waren, von dem Versprechen, das wir nicht gehalten haben, dem Geläster hinter ihrem Rücken, dem Gelächter über diese oder jene misslungene Fashion Choice und über alle anderen kleinen Missetaten, die wir uns nicht eingestehen. Wir verletzen Menschen und Menschen verletzen uns und besonders gern verletzen wir die Menschen, die uns verletzt haben, zurück. Daraus entsteht aber dann ganz schnell der altbekannte Teufelskreis. Wie kommen wir da wieder raus?

Warum ist Vergebung wichtig für mich?

Vergebung ist ein wichtiger Schritt, um Erlebtes loszulassen und um innerlich frei zu werden. Das sagt nicht nur unser Glaube als Christen, sondern das bestätigt heute auch die Wissenschaft, wie etwa die sogenannte Forgiveness-Forschung. Es konnte zum Beispiel wissenschaftlich bestätigt werden, dass Menschen, die vergeben, emotional gesünder sind, geringere Stresslevel und weniger Wut haben. Es wurde sogar gefunden, dass Vergebung mit einem stärkeren Immunsystem zusammenhängt.

“Vergebung ist ein wirksames Mittel, um Zerbrochenes zu reparieren.”

Wir Menschen sind Beziehungswesen. Beziehungen sind aber eine zarte Pflanze: Streit und Verletzungen können kleine Brüche verursachen, die unsere Freundschaften beschädigen. Da ist Vergebung ein wirksames Mittel, um Zerbrochenes zu reparieren, Verbindungen wieder aufzubauen und selber von dem, was in der Vergangenheit war, zu heilen.

Schön und gut, aber ganz so selbsterklärend ist das mit der Vergebung ja nicht. Sagt man einmal die Zauberworte „Ich vergebe dir“ und das war’s? Was, wenn ich das so gar nicht spüre? Und was, wenn ich schon einmal vergeben habe, aber dann wieder Wut wegen derselben Situation in mir aufkochen fühle?

Schuld benennen

Ein wichtiger erster Schritt ist es, die Schuld zu benennen. Vergebung bedeutet nicht ein Kleinreden von Fehlern. Genauso wenig soll man aus einer Mücke einen Elefanten machen. Aber es ist wichtig zu sagen, das hat mir wehgetan, das war unrecht und falsch. Deswegen kannst du in einem ersten Schritt versuchen, deinen Schmerz anzuerkennen und darüber nachzudenken, was dich eigentlich genau verletzt hat. Vielleicht hilft es dir, einen Brief zu schreiben, den du nicht abschickst, indem du versuchst, aufs Papier zu bringen, was dir weh getan hat. Das hilft, um zu akzeptieren, dass du Vergangenes nicht ändern kannst. Was passiert ist, kann nicht rückgängig gemacht werden und besser, als deinen Schmerz zu unterdrücken, ist es, ihn anzunehmen und bewusst damit umzugehen. Durch die Klarheit über das, was passiert ist und was dir wehgetan hat, kannst du auch besser entscheiden, ob du vergeben möchtest.

Auf das Wollen kommt es an

Manchmal glauben wir, dass wir nicht vergeben können, bevor wir es fühlen. Die Forgiveness-Forschung sagt aber, dass es auf die Intention ankommt. Um zu vergeben, musst du vergeben wollen, das ist der Anfang vom Vergebungsprozess. Das heißt, es kann gut sein, dass du dich trotz der Entscheidung zu vergeben, noch immer traurig, verletzt oder wütend fühlst. – Bleib dran, im Laufe der Zeit kommt es erst zur „emotionalen Vergebung“. Emotionale Vergebung meint den Teil vom Prozess, wo du beginnst, mehr positive Gefühle statt negative zu empfinden. Das kann und darf dauern. Menschen, die große Sachen vergeben haben, sprechen davon, dass Vergebung täglich eine Entscheidung ist. Man muss dranbleiben. Mit der Zeit spürst du dann aber vielleicht mehr Wohlwollen als Wut oder mehr Mitgefühl als Verurteilung. Wenn du dich entschieden hast zu vergeben, kannst du beginnen, die Beziehung zu der Person, die dich verletzt hat, wieder aufzubauen. Die Freundschaft wird vielleicht anders sein wie vorher, aber du kannst durch ein Lächeln, ein nettes Wort oder eine simple Geste zeigen, dass du bereit bist zu vergeben. So wird eure Verbindung langsam repariert.

Und wenn der Täter nicht bereut?

Du musst nicht darauf warten, bis die andere Person sich bei dir entschuldigt und ihren Fehler einsieht. Wenn sich der andere nicht entschuldigt, macht das die Sache sicher nicht leichter. Trotzdem ist auch hier Vergebung möglich und eine Befreiung für einen selbst. Natürlich bedeutet das nicht, dass man sich ständig ausnutzen oder verletzen lassen soll. Über Kleinigkeiten kann man hinwegsehen, aber bei schwerwiegenden Sachen muss man sich abgrenzen und aus dem Wirkungsbereich des Täters herausgehen, also Distanz suchen. Nur weil man vergeben hat, heißt das nicht, dass alles so sein muss, wie es vorher war. Es geht vielmehr um unsere innere Haltung der Person gegenüber. Wie wir ihr dann zukünftig begegnen, ist situationsabhängig.

Schuld zugeben

Ok, viel gesagt über Vergebung. Was ist aber, wenn wir gar nicht vergeben wollen? Vielleicht denkst du dir, es gibt viel, was verzeihbar ist, aber das sicher nicht. Das war eine Nummer zu viel. Da gibt’s kein Zurück. Oder? Der bekannte Psychiater Raphael Bonelli sagt interessanterweise, dass sich Menschen oft dann schwertun, anderen zu vergeben, wenn sie sich selbst keine Schuld eingestehen können. Wer sich selbst für fehlerlos hält, akzeptiert ganz schwer die Fehler von anderen. Studien bestätigen: Menschen tun sich umso leichter mit dem Vergeben, je mehr Einsicht sie in ihre eigenen Fehler haben. Schon im Vaterunser gibt es einen Zusammenhang zwischen eigener Schuld und Vergebung. Wir sagen: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ Das ist schon psychologisch gesehen ein gesunder Zugang. Wir sind nicht fehlerlos, und wir dürfen auch anderen zugestehen, dass sie Fehler machen.

“Wir müssen nicht perfekt sein, um geliebt zu sein.”

Wer seine eigenen Fehler einsieht, merkt, dass es auch gar nicht so leicht ist, sich selbst zu vergeben. Fehler einzugestehen, ist herausfordernd, aber es hilft uns im Umgang mit den Fehlern der anderen. Wir lernen, dass wir nicht perfekt sind und es auch nicht sein müssen, um geliebt zu sein. In der Beichte üben wir als Katholiken zum Beispiel genau das: Man sagt einfach geradeheraus, wo man etwas falsch gemacht hat. Oft fürchten wir uns davor, jemandem zu sagen, wo wir Mist gebaut haben, aber das Coole ist, dass wir am Ende jeder ehrlichen Beichte hören dürfen, dass Gott uns vergibt. Das ist stark und lehrt uns, was es heißt, Vergebung zu empfangen.